Die Pharmaindustrie: Am Ende geht es nur ums Geld
In der Ausgabe der Tageszeitung junge Welt vom 10. Dezember 2019 berichtet Jan Pehrke, Mitglied der Coordination gegen Bayer-Gefahren e. V., darüber, wie Bayer und andere Pharmakonzerne bis in die 1950er und 1960er Jahre hinein Arzneimittel, insbesondere Psychopharmaka, an Heimkindern testeten. Drei ehemals Betroffene forderten deshalb im April 2019 auf der letzten Bayer-Hauptversammlung eine Entschuldigung und eine Entschädigung von dem Leverkusener Konzern. Ohne Erfolg, der Bayer-Chef lehnte ab und bestritt, dass es überhaupt Studien in Heimen gegeben habe. Zu Entschädigungszahlungen erklärten sich bislang weder Bayer noch andere Unternehmen aus der Branche bereit. Über die Bewertung der Arzneierprobungen herrsche jedoch heute weitgehend Einigkeit, so der Autor. Er zitiert eine Kieler Medizinethikerin: „Das ist ethisch problematische Forschung. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen: Das ist ethisch unzulässige Forschung“. Das Vorgehen der Ärzte hätte nach Ansicht der Wissenschaftlerin selbst damaligen Standards nicht entsprochen.
Liest man außer solchen eher medizinhistorischen Berichten weitere Publikationen, die über die gegenwärtigen (wirtschafts-)kriminellen Handlungen in der Branche Aufschluss geben, so zeigt sich deutlich: Die Pharmaindustrie ist nach wie vor für kriminelles Verhalten in besonderer Weise anfällig. Eine branchenspezifische Untersuchung aus dem Jahr 2013 etwa ergab, „dass Pharmaunternehmen bei der Vorbeugung gegen Wirtschaftskriminalität im Vergleich zu anderen Branchen noch Nachholbedarf haben“. Obwohl gerade die Pharmabranche einem erhöhten Korruptionsrisiko ausgesetzt sei, würde deren Bekämpfung im Vergleich zu anderen Branchen weniger Aufmerksamkeit gewidmet (Bussmann, Seite 5 und 16).
Korruption und Bestechung in der Pharmaindustrie sind natürlich nichts Neues. An der Einsicht in die Notwendigkeit, grenzüberschreitend und kooperativ gegen Betrug und Korruption im Gesundheitswesen vorzugehen, fehlt es prinzipiell auch nicht. So führte das Europäische Netzwerk gegen Betrug und Korruption im Gesundheitswesen (EHFCN) am 19. November 2019 in Berlin bereits zum 13. Mal eine Expertentagung durch. Festgestellt wurde unter anderem, „dass nationale Alleingänge im Kampf gegen Betrug und Korruption im Gesundheitswesen angesichts eines offenen Binnenmarktes und grenzüberschreitender Gesundheitsversorgung nicht länger zielführend erscheinen“. Ein erfolgreiches Vorgehen gegen das wirtschaftskriminelle Agieren stärke hingegen das Vertrauen der EU-Bevölkerung in die Integrität von Gesundheitsversorgung, wie der Präsident des EHFCN-Netzwerks in einer Pressemitteilung erklärte.
Weniger banal und verhalten äußern sich kämpferische Wissenschaftler wie etwa der dänische Medizinforscher Peter Gøtzsche, der im September 2018 aus der renommierten Cochrane Collaboration ausgeschlossen wurde. Dabei handelt es sich laut Wikipedia um „ein globales, unabhängiges Netzwerk (…) aus Wissenschaftlern, Ärzten, Angehörigen der Gesundheitsfachberufe, Patienten und weiteren an Gesundheitsfragen interessierten Personen“. Nach Transparency International sollte er mundtot gemacht werden, „weil er das wissenschaftliche Herangehen der Cochrane Collaboration grundsätzlich und die damit verbundene Pharma-Nähe kritisiert hat“. Gøtzsche kämpft seit Jahren gegen pharmagesponserte Studien und plädiert für die Transparenz klinischer Studiendaten. Denn Pharmafirmen halten seiner Auffassung nach immer wieder Daten zurück, um die Wirksamkeit von Medikamenten behaupten zu können.
In seinem 2015 veröffentlichten Buch “Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität”, welches für reichlich öffentliches Aufsehen sorgte, spricht er im Zusammenhang mit der Pharmaindustrie sogar von organisierter Kriminalität. Seine provokante These lautet, dass die Pharmaindustrie mehr Menschen umbringen würde als die Mafia. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung aus dem gleichen Jahr bestätigte er, dass Unternehmen Arzneimittel auf den Markt drückten, obwohl sie für viele Patienten sogar tödlich seien. Auf die Bitte des Journalisten, Beispiele zu nennen, führte Gøtzsche aus:
„Etwa Schmerzmittel wie Vioxx, von denen bekannt war, dass sie ein Herzinfarktrisiko darstellen und zum Tod führen können. Vioxx kam ohne ausreichende klinische Dokumentation auf den Markt, weshalb Merck vor Gericht stand und 2011 immerhin 950 Millionen Dollar zahlen musste. Bevor es vom Markt genommen wurde, wurde das Mittel bei Rückenschmerzen eingesetzt, bei Tennisarm, bei allen möglichen Leiden. Vielen Patienten wäre es aber schon mit Paracetamol oder auch ganz ohne Medikamente wieder gutgegangen − und jetzt sind sie tot. Das ist eine Tragödie.“
Betrug, Irreführung, Bestechung oder Vermarktung nicht zugelassener Mittel seien die Regel. Diese Straftaten erfüllten die Kriterien für das organisierte Verbrechen, deshalb könne man von Mafia reden.
US-Behörden ziehen offensichtlich praktische Konsequenzen aus diesen Erkenntnissen und zeigen sich bei ihren Ermittlungen wenig zimperlich. Spiegel Online berichtete am 27. November 2019, dass Pharmakonzerne juristisch mit Drogendealern gleichgestellt werden sollen. „Den Pharmakonzernen wird vorgeworfen“, so das Magazin, „mit ihren Produkten zu der Schmerzmittelepidemie beigetragen zu haben, die in den vergangenen Jahren (…) zu Hunderttausenden Toten durch Überdosierungen führte“. Die Justizbehörden prüfen demnach, ob Hersteller und Händler abhängig machender Opioide gegen das bundesweite Suchtmittelgesetz „Controlled Substances Act“ verstoßen haben und entsprechend verfolgt werden können.
Quellen:
Kai Bussmann/Michael Burkhart/Steffen Salvenmoser: „Wirtschaftskriminalität – Pharmaindustrie“, hrsg. von PricewaterhouseCoopers AG und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, 2013
https://www.pwc.de/de/gesundheitswesen-und-pharma/assets/pharmabranche-fehlt-rezept-gegen-korruption.pdf
EHFCN, Gemeinsame Pressemitteilung vom 19. November 2019: Internationale Konferenz setzt auf grenzüberschreitende Zusammenarbeit im Kampf gegen Betrug und Korruption
https://www.gkv-spitzenverband.de/media/dokumente/presse/pressemitteilungen/2019/Gm_PM_2019-11-19_Konferenz_Betrug_im_Gesundheitswesen.pdf
Jan Pehrke: „Bayers Menschenversuche“, in: junge Welt, 19. Dezember 2019
https://www.jungewelt.de/artikel/368448.medizingeschichte-bayers-menschenversuche.html?sstr=pharmaindustrie
Markus C. Schulte von Drach: „Kritik an Arzneimittelherstellern: Die Pharmaindustrie ist schlimmer als die Mafia“, Süddeutsche Zeitung, 6. Februar 2015
https://www.sueddeutsche.de/gesundheit/kritik-an-arzneimittelherstellern-die-pharmaindustrie-ist-schlimmer-als-die-mafia-1.2267631?print=true
„Plan der US-Behörden: Pharmakonzerne sollen mit Drogendealern gleichgestellt werden“, in: SPIEGEL Online, 27. November 2019
https://www.spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/us-behoerden-wollen-pharmakonzerne-mit-drogen-dealern-gleichstellen-a-1298430.html
Transparency International Deutschland: „Erklärung zum Ausschluss von Peter Gøtzsche aus dem Cochrane-Netzwerk“, Berlin, 22. Januar 2019
https://www.transparency.de/fileadmin/Redaktion/Aktuelles/2019/19-01-22_Erklaerung_Goetzsche_Transparency_Deutschland.pdf
Joachim Maiworm ist Redakteur von BIG Business Crime